ZEUGEN-BEWUSSTSEIN: Das Auge im Sturm 1 (2)

13.05.2016

 

ZEUGEN-BEWUSSTSEIN: Das Auge im Sturm

 

So, wie die Sonne der reine Zeuge der menschlichen Handlungen ist,

wie das Feuer alles verbrennt, ohne Unterschiede zu machen,

und wie ein Seil für etwas gehalten wird, was man darin zu erkennen glaubt

-- so bin ICH, das unwandelbare Selbst, das Absolute Bewusstsein.


- Vivekachudamani 5. 506 -

 

Das Zeugenbewusstsein ist der erhabene innere Zustand, aus dem heraus wir beobachten oder gewahren, wie unser Geist und unsere Sinne die Welt erfahren. Zeugenbewusstsein – zum Beispiel als Meditationsform – können wir üben. Als Zustand im Alltag jedoch fällt es den meisten von uns nicht leicht. Spontan mag dieser Zustand auftreten. Dann nehmen wir für einen Bruchteil einer Sekunde wahr, wie wir aus unseren Augen schauen und uns selbst als Teil eines größeren Ganzen erfahren. Es mag auch geschehen, dass wir uns willentlich von einem Gefühl oder einer äußeren Situation lösen und die Warte eines Beobachters einnehmen. Permanent in diesem Zustand zu verweilen – dauerhaft zu leben – erscheint den meisten allerdings jenseits ihrer Möglichkeiten zu liegen.

Doch sehnen wir uns nicht eigentlich danach? Ist es nicht eine wunderbare Erfahrung, von einem Berg oder Hügel aus bei klarer Sicht nach unten auf eine Stadt zu schauen und das Treiben darin zu beobachten? Oder im Theater oder Kino von einem sicheren und bequemen Platz aus an den Gefühlen und Erfahrungen der Schauspieler teilzuhaben und aus der Distanz zu erleben, was sie erleben? Ja, wir genießen diesen Zustand außerordentlich. Warum sonst sollten wir immer wieder gezielt und in Erwartung großer Freude in solche Erfahrungen hinein gehen.

Vom Standpunkt des Yoga aus tun wir auf reduzierte Weise im Theater oder Kino genau das, was das Selbst oder höchste Bewusstsein in jedem Augenblick unseres Lebens tut: Völlig losgelöst und unberührt genießt es als Zuschauer all das, was wir als Menschen jeweils erleben. Deshalb wird das Selbst in der Yoga-Philosophie auch als Bhoktar (Sanskrit für „Genießer“) bezeichnet. Es genießt oder erfährt all unsere Erfahrungen, ohne in irgendeiner Weise beteiligt zu sein. Diese seine Freiheit beruht auf der unendlichen und ewigen Distanz zu dieser Welt. Es ist in dieser Welt, doch von seinem Wesen her ist und bleibt es verschieden, getrennt, distanziert.

So wie wir im Zuschauerraum im Theater zurück gelehnt und bequem in unserem Sessel sitzend das Geschehen auf der Bühne genießen – ganz gleich, wie turbulent es dort zugehen mag – ebenso erlebt das Selbst – der Atman – die Lebens-Ereignisse der jeweiligen Person. Und das schließt alle unsere Erfahrungen ein: alle Gefühle, alle Gedanken, alle Freuden, alles Leid, unsere Geburt, unsere Jugend, unser Altern, unser Sterben, unseren Tod und alles was danach folgt. Für das Selbst hat sich dabei nichts aber auch gar nichts geändert. Es bleibt, wie und was es ist.

Wie gesagt: Das Geheimnis der Losgelöstheit und Freiheit ist die Distanz. Dieses Prinzip der Distanz können wir uns jedoch hier und jetzt im alltäglichen Leben zunutze machen. Das bedeutet nicht, dass wir uns vom Leben „distanzieren“! Im Gegenteil. Durch die innere Distanz, werden wir in der Lage sein, noch intensiver und aktiver am Leben teilzunehmen. Innere Distanz bewahren wir, indem wir uns als Individuum bei unseren persönlichen Erfahrungen nicht als „Macher“, sondern als „unbeteiligter und unabhängiger Zeuge der Ereignisse“ wahrnehmen.

Wenn wir anfangen, Zeugenbewusstsein zu praktizieren – sinnvollerweise beginnt man damit in der Meditation – werden wir im Laufe der Zeit auch im äußeren Leben zu den Ereignissen Distanz waren können, obgleich oder gerade weil wir mittendrin sind. Dann werden wir so etwas wie das „Auge im Sturm“ sein, die Stille inmitten höchster Aktivität – beziehungsweise der „Ruhepunkt der sich drehenden Welt“, wie es sehr treffend der Schriftsteller T.S. Eliot1 einmal nannte.

 

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1T.S. Eliot war ein englischsprachiger Lyriker, Dramatiker und Kritiker, der als einer der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne gilt. Im Jahr 1948 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.