SHAKTIPAT - Das Geheimnis der vollkommenen Kundalini-Erweckung 2 (4)

04.05.2015

 

SHAKTIPAT- Das Geheimnis der vollkommenen Kundalini-Erweckung 2 (4)


Der Begriff "Kundalini-Erweckung" ist in einschlägigen Yoga-Kreisen in aller Munde. Aber wie fand dieses Ereignis zu früheren Zeiten statt (und auch noch heute – ich habe es selbst erlebt)? Wie erlangten die Yogis diesen über alles ersehnten Moment? Klassischerweise geschah es nicht ausschließlich, wenn überhaupt, auf dem Weg des vorwiegend eigenen Bemühens (Stichwort: Hathayoga-Praktiken). Weil das nach expliziter Aussage der Tantras gar nicht möglich ist, da man sich nun mal nicht – und das ist nicht nur eine uralte yogisch-tantrische Binsenweisheit – am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Hierzu - um diese letzte Fessel abzulegen - bedarf es nach einhelliger Auffassung der alten Meister einer Kraft höherer Ordnung.

In dieser kleinen Beitragsserie geht es um einen außerordentlich wichtigen, wenn nicht gar entscheidenden, Aspekt des Kundalini-Yoga, der in westlichen Yoga-Kreisen kaum bis gar keine Erwähnung findet: Um die in den großen Tantras (z.B. Kularnava-Tantra, Maha-Nirvana-Tantra, usw.) als absolut notwendig erachtete Kraftübertragung vom Meister auf den Schüler/die Schülerin - genannt Śaktipāt. Da der Meister bzw. die Meisterin eins ist mit der Energie/Kraft des Höchsten, handelt der Meister/die Meisterin bei der Shaktipāt-Dīkṣā (Übertragungs-Einweihung) nicht an etwas "anderem", als an sich selbst bzw. dem SELBST. Die Meister wissen und erfahren es unmittelbar: Kundalini ist kein Objekt, kein Mechanismus, den wir manipulieren könnten. Warum? Weil Kundalini die höchste Kraft im Universum ist. Sie ist die unendlich mächtige Schöpferkraft des Absoluten. Wenn dies die Einstellung der großen und alten Kundalini-Meister ist, wäre da nicht im Zusammenhang mit unserem Streben auch ein wenig Demut und statt unserer Eigenwilligkeit etwas Hingabe an den Willen der Höchsten Shakti angesagt?

Bei der höchsten Einweihung (Shaktipāt) – man denke an die Worte Jesu beim letzten Abendmahl „Nehmet hin, dies ist mein Leib...“ - gibt sich der Meister/die Meisterin selbst. Shaktipāt ist gleichzeitig Ausdruck höchster Macht wie auch höchster Demut. Durch diesen höchsten Gnadenakt wird die Selbst-Vergessenheit des Schülers/der Schülerin erschüttert, und die eigene innere, göttliche Segenskraft des jeweiligen Individuums erwacht, wie auch die Erkenntnis der Einheit von Meister und Schüler – von absolutem Bewusstsein und individuellem Bewusstsein. Es beginnt das Sich-Wiedererinnern des Tropfens …. als UNENDLICHER OZEAN .... Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus meinem "Großen Kundlini-Buch".


- Klassischerweise werden in den einschlägigen Werken des Tantra und Yoga und von vielen bekannten Meistern, wie z.B. auch Swami Śivānanda Sarasvatī1, folgende vier Typen der Śakti-Übertragung genannt2:

1. durch die unmittelbare körperliche Berührung des Gurus (Sparśa-Dīkṣā).

2. durch das Wort des Gurus (Mantra-Dīkṣā), was tatsächlich durch ein Mantra, aber auch durch ein völlig alltägliches Wort, das der Guru spricht, geschehen kann.

3. durch einen Gedanken oder den Willen des Gurus (Saṅkalpa- oder Mānasa- Dīkṣā).

4. durch den Blick des Gurus (Dṛg-Dīkṣā)

„Berührung“ kann im Zusammenhang mit der Kraftübertragung während Śaktipāt Verschiedenes bedeuten. Es gibt sicherlich die Initiationsform der vom Guru bewusste durchgeführten und direkten Berührung, wie sie oben beschrieben wurde. Doch muss die Sparśa-Dīkṣā keineswegs immer so ablaufen, wie bei der Initiation Vivekanandas durch seinen Guru Ramakrishna. Sie muss überhaupt nicht so stattfinden, wie man sich eine Einweihung vorstellt und wie sie tatsächlich auch häufig in den einschlägigen Werken beschrieben ist. So befindet auch Jyotishman Dam bezugnehmend auf die „Lehren der Tantras und Siddhas“:

„Oder der Guru weiht den Schüler ohne rituelle Handlungen durch seinen Segen, den er durch die Hände oder seinen Blick übermittelt, ein. In jedem Fall gewährt er dem Schüler Śaktipāta.“3

Das oben genannten Beispiel einer Initiation durch Bhagawan Nityananda zeigt keinerlei Anzeichen einer formellen Einweihung. Gerade solche Avadhūtas wie Nityananda sind eher bekannt, um nicht zu sagen berüchtigt, für ihre unkonventionelle Art Śaktipāt-Dīkṣā zu geben. Ein solcher Guru ist an keinerlei äußere Form gebunden. Er oder sie mag jemanden am Scheitelpunkt des Kopfes berühren, zwischen den Augenbrauen oder eben an anderen Stellen, an denen sich Chakras bzw. wichtige Energiezentren befinden – so wie man es in manchen tantrischen Werken explizit erläutert findet (verschiedene formelhafte Methoden der Śaktipāt-Einweihung sind in L. Silburns „Kundalini und Tantra – Die geheimnisvolle Lebenskraft des Menschen“ ausführlich beschrieben).

Eines der bekanntesten historisch belegten Beispiele dieser Form der Kraftübertragung finden wir in den Schilderungen des berümten Paramahamsa Yogananda – und man ist unwillkürlich an einen der Aussprüche des englischen Dichters und Mystikers William Blake erinnert „Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt, so würde jedes Ding dem Menschen als das erscheinen, was es ist - als unendlich“ -

„’Die Berge können dir nicht geben, wonach du dich sehnst’, sagte der Meister tröstend und voller Zärtlichkeit. Sein Blick war still und unergründlich, als er fortfuhr: ‚Dein Herzenswunsch soll in Erfüllung gehen!’ Shri Yukteshwar sprach selten in Rätseln, und so wusste ich nicht, wie ich seine Worte verstehen sollte. Da schlug er mir in die Gegend des Herzens. Sogleich stand ich wie festgewurzelt da. Der Atem wurde mir, wie von einem gewaltigen Magneten, aus der Lunge gesogen. Geist und Seele sprengten augenblicklich ihre irdischen Fesseln und strömten gleich einer blendenden Lichtflut aus jeder Pore meines Körpers. Das Fleisch fühlte sich wie abgestorben an, und dennoch war ich im Besitz intensiver Wahrnehmungskraft und wusste, dass ich nie so lebendig gewesen war. Mein Ichbewusstsein beschränkte sich nicht mehr auf den Körper, sondern alle in meinem Bereich liegenden Atome. Menschen aus fernen Straßen tauchten plötzlich in meinem Blickfeld auf, das sich ins Unermessliche erstreckte. Die Wurzeln der Pflanzen und Bäume schimmerten durch den transparent gewordenen Boden hindurch, und ich konnte den inneren Saftstrom erkennen. . . . Meine gewöhnliche Sicht erweiterte sich zur unermesslichen sphärischen Sicht, so dass ich alles gleichzeitig wahrnehmen konnte. . . . Alle Gegenstände innerhalb meines panoramischen Blickfeldes zitterten und vibrierten wie Filmbilder. Mein Körper, der Körper des Meisters, der von Säulen umstandene Hof, die Möbel und der Fußboden, die Bäume und der Sonnenschein gerieten zeitweise in heftige Bewegung, bis sie sich alle in einem leuchtenden Meer auflösten. . . . Der ganze Kosmos flimmerte wie eine ferne, nächtliche Stadt in der Unendlichkeit meines eigenen Selbst.“4

Sparśa-Dīkṣā kann sich jedoch auch durch eine „zufällige“ Berührung des Guru bzw. im Vorübergehen ereignen, wie wir dem nachfolgenden Bericht entnehmen können:

„Nick Yaffe, ein Lehrer aus Boston wurde von Baba [Muktananda] in dessen Ashram in Ganeshpuri getraut. Baba zog das Paar an sich, um es zu segnen, und Nick spürte, wie durch die Umarmung unermessliche Energie in ihn floss. Er ging zu seinem Platz zurück und setzte sich hin; er kam sich wie ein tonnenschwerer Baum vor. Dann verwandelte sich seine Umgebung; alle Schöpfung war von blauem Licht erfüllt, und mit einem Mal überkam Nick die Erkenntnis: ‚So ist die Welt wirklich, und so ist sie immer gewesen.’ Er blickte zu Baba hin, der gar nicht mehr richtig da zu sein schien. Babas Körper war blaues Licht, sein Kopf ein hell leuchtendes weißes Licht. Seine Gesichtszüge traten hervor und lösten sich als pulsierende Energie aus diesem weißen Strahlen heraus. . . . Vierhundert Menschen, die meisten waren Inder aus der Umgebung, hatten sich aufgereiht, um dem Paar Glück zu wünschen und dafür das traditionelle Gebäck in Empfang zu nehmen. Als nun einer nach dem anderen herantrat, erkannte Nick, dass sein eigenes Selbst auch in ihnen war, dass jeder einzelne seinerseits diese Einheit verkörperte, dass sie alle eins waren.“5

Oft ereignet sie sich in Anwesenheit vieler Menschen und geschieht doch im Verborgenen, für anwesende Dritte als solches also überhaupt nicht erkennbar. Die Meister der mystischen Traditionen Indiens sind bekannt dafür, dass Gegenstände, die sie berührt haben, mit ihrer spirituellen Kraft „aufgeladen“ sind. In Maharashtra (wo ich mich längere Zeit aufgehalten habe) aber auch anderswo in Indien nennt man Speisen (z.B. Obst, Süßigkeiten, Wasser usw.), die von einem Heiligen oder Guru (insbesondere innerhalb der Siddha- und Sufi-Traditionen) berührt und dadurch gesegnet wurden Prasād (von Skt. Prasāda, „Gnade, Segenskraft“). Segnen bedeutete ursprünglich in den alten Kulturen ganz konkret „Kraft verleihen“. Im Laufe der Zeit verwässerte allerdings in unseren westlichen Kulturen und Religionen sowohl die Vorstellung als auch das unmittelbare Erleben eines solchen Segnungsaktes. Segenskraft kann eben nur dann erlebt werden, wenn sie tatsächlich vorhanden und somit unmittelbar erfahrbar ist.

Der Akt der Segnung, im Sinne von Kraftübertragung, der durch die Vergabe von entsprechend „kontaminierten“ Speisen erfolgt, begegnet uns in der christlichen Religion in Form des bereits erwähnten Abendmahls. Das Besondere und höchst Sakrale an diesem Akt – zu dem seit geraumer Zeit in der christlichen Tradition nach meiner Auffassung der Zugang fehlt, da die Eucharistie, wie sie heute zelebriert wird, eben nicht identisch ist mit dem ursprünglichen Akt der Segensübertragung6 - besteht darin, dass Jesus die Speise in die Hände nimmt und dann an seine Jünger verteilt. Hierdurch, weil er mit die göttlichen Segenskraft identisch ist (die Aussage von Jesus „Ich und der Vater sind eins“ - Johannes 10. 30, findet seine tantrische Entsprechung in dem oben zitierten Satz aus dem Śrī Mālinī Vijaya Tantra, in dem nicht nur die prinzipielle Einheit von Gott und Guru sondern auch das Wesen des Gurus als solches dargelegt wird - gururvā parameśvarī anugrāhikā śaktiḥ, “Der Guru ist die segensspendende Kraft/Macht (Śakti) des höchsten Herrn“) übergibt Jesus mit dem Akt der Segnung – vergleichbar einem Sadguru, der Śaktipāt erteilt – s i c h s e l b s t an seine Schüler:

Markus 14. 22 – „Und indem sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib. Und nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des neuen Testaments, das für viele vergossen wird.“

Die Übertragung der Segenskraft durch Berührung (Sparśa-Dīkṣā) kann sich jedoch auch durch jedes andere Objekt, dass der Guru berührt hat, ereignen. Wie bereits dargestellt war Bhagawan Nityananda von Ganeshpuri bekannt für sein eher „normabweichendes“ Verhalten, was natürlich auch seine Art, Shaktipāt zu gewähren, betrifft. So berichtet sein Schüler Swami Muktananda:

„Er pflegte selten formelle Initiation zu geben. . . . Manchmal bat er jemanden zu gehen, und die Person zögerte. Dann hob mein Guru den Arm und warf ein Handtuch oder irgendeinen anderen Gegenstand nach ihm und rief „Geh’ jetzt!“ Im selben Augenblick erhielt die Person Shaktipat.“7

Eine, wie ich sie nennen möchte, Sonderform der Einweihung durch Berührung, ist die bereits zu Beginn meines Werkes erwähnte Energieübertragung durch den Atem des Gurus. Es handelt sich dabei um eine bei weitem nicht auf das Indische beschränkte, sondern beispielweise auch in den alten schamanischen Traditionen bekannte Form der Energieübertragung (siehe das im ersten Kapitel genannte Beispiel aus dem Neuen Testament). Außergewöhnlich unverhüllte und detaillierter Beschreibungen hiervon finden wir in dem Hauptwerk Tantrāloka des großen kashmirischen Philosophen, Ästhetik-Genies und tantrischen Groß-Meisters Abhinavagupta (950-1020 n.Chr.), zusammengefasst und kommentiert von Lilian Silburn in ihrem Werk „Kundalini und Tantra“ unter der Überschrift „Das Eindringen des Guru in den Atem des Schülers“:

„Sein Bewusstsein in das des Schülers hauchend, dringt er dann stufenweise in dieses ein. Eine dieser Stufen wird als Equinox (viṣuvat) bezeichnet, eine vollkommene Gleichheit der Leere, in der Ein- und Ausatmen ihr Ende nehmen. . . . Der Guru legt dieses Ausatmen als Opfergabe in das Einatmen, indem er bis zum Kern seiner eigenen Glückseligkeit vordringt und diesen anfänglichen heftigen Strom (piṇḍa) des prāṇa festigt und stetig fließen lässt, um ihn anschließend dem Schüler einzuflößen. . . . Daraufhin tritt der Meister in den Körper des Schüler ein und bringt über den Atem erneut die zweifache Opfergabe von prāṇa und apāna und umgekehrt dar. . . . Wird das Ausatmen im Augenblick innerer Fülle (pūraka) im Einatmen dargebracht, taucht der Guru in seine eigene Glückseligkeit, nimmt den ungeläuterten Atem des Schülers in sich auf und reinigt ihn. . . . Der Guru fährt auf diese Weise fort, bis der Atem des Schülers den brahmarandhra erreicht und das jeweilige Bewusstsein der beiden vollkommen still ist. Spontan äußert der Guru dann das praṇava OṂ in seinem eigenen Wesen, atmet ein und wird eins mit dem Schüler.“8

 

1 Siehe unter www.sivanandadlshq.org/teachings/guru.htm (siehe "Sakti-Sanchar")

2Siehe D.B. SenSharma, The Philosophy of Sadhana.Albany 1990, S. 98.

3ibid., S. 54-55.

4Paramahamsa Yogananda, Autobiographie eines Yogi. 1977 Freiburg, S. 157-59.

5Joseph C. Pearce, Die heilende Kraft – Östliche Meditation in westlicher Deutung. Tübingen 1983, S. 188.

6Über die Auffassung, ob das beim Abendmahl gebrauchte Brot und der Wein nur Erinnerungsobjekte oder aufgrund einer Verwandlung reale Vergegenständlichungen Jesu bedeuten, kam es innerhalb der katholischen Kirche schon ab dem neunten Jahrhundert zum Streit. Auf dem vierten Laterankonzil (1215 n.Chr.) wurde die Transsubstantiation, d.h. die Verwandlung des Brotes in den Leib und des Weines in das Blut Christi zum Kirchen-Dogma erklärt.

7Swami Muktananda, Where are You going? A Guide to the Spiritual Journey. New York 1994, S. 60-61.

8Lilian Silburn, Kundalini und Tantra. Grafing 2005, S. 97-99.

 

 

Teil 3 folgt in Kürze . . . . .