YOGA – Der Weg der ERFAHRUNG

24.12.2015

 

YOGA – Der Weg der ERFAHRUNG

 

Was ist der Unterschied zwischen Yoga und Religion? Die Grundlage aller Religionen ist der Glaube. Der Glaube steht im Mittelpunkt – der Glaube an Gott, an einen Propheten, an ein heiliges Buch, an die jeweilige Tradition oder Religion als solche. Daher gibt es in fast allen Religionen ein Glaubensbekenntnis oder etwas Ähnliches – ein Credo, was ja wörtlich bedeutet „Ich glaube". Das ist im Yoga anders – grundsätzlich anders.

Nicht, dass man auf dem Weg des Yoga nicht auch an etwas glauben müsste, oder besser gesagt, an jemanden. Aber dieser jemand ist nicht außerhalb oder verschieden von einem. Im Yoga lautet das Credo „Ich glaube an mich selbst – an mein wahres SELBST". Denn Yoga ist der spirituelle Weg der eigenen, individuellen Erfahrung – und des Handelns. Unsere Erfahrungen, nicht irgendwelche abstrakten Überzeugungen haben die größte Wirkung auf uns in Hinblick auf unsere weitere Entwicklung. Unsere Ideen und Vorstellungen führen selten zu wirklichen Veränderungen. Konkrete Erfahrungen beinhalten dagegen durchaus die Kraft uns zu transformieren. Sie zerbrechen die Konzepte, die wir über uns selbst haben, die uns fesseln und eingesperrt halten. Als Reisende auf dem spirituellen Weg werden wir all das hinter uns lassen, was nichts mit unserer wahren Identität, unserem Selbst, zu tun hat. Wir werden all der Dinge beraubt, die uns schwer machen, die verhindern, dass wir aufsteigen.

Auf dem Weg des Yoga werden wir vollkommen leer, beziehungsweise „zunichte", wie der große Mystiker Meister Eckhart es einmal ausdrückte. Denn der Reisende auf diesem besonderen spirituellen Weg wird selbst seiner Identität beraubt – seiner falschen Ich-Identität. In der „Leere" die sich im Gegenzug dann in seinem Inneren offenbart, wird er jedoch die unendliche Fülle entdecken – seine wahre Identität. Nichts zu sein – nicht ein Einziges – bedeutet alles zu sein, Identität mit dem Absoluten. Mich persönlich erinnert der Erfahrungsweg des Yoga daher immer wieder an Goethes „Stirb und Werde!" Jede Transformation – sei es eine kleine oder eine große – beinhaltet nämlich Tod und Wiedergeburt, Vernichtung und Neuerschaffung. Die harte Schale des Samens wird von dem kleinen und zu Beginn zarten Keimling durchbrochen. Die Sonne lockt ihn heraus und immer weiter nach oben.

In allen spirituellen und religiösen Traditionen gibt es Metaphern und Symbole die die Wechselbeziehung des „Sterbens" und „Werdens" - des Prozesses der spirituellen Transformation – beschreiben. Im Hinduismus spiegelt Shiva als auflösendes und Brahma als erschaffendes Prinzip diese beiden diametral entgegengesetzten und zugleich einander bedingenden Pole wider. Im Christentum drückt die Kreuzigung Christi und seine Auferstehung zum ewigen Leben eben dieses Wesen der spirituellen Transformation aus. Die Weigerung, die alte Identität – die ja auch nur eine Form und nicht der Inhalt ist – sterben zu lassen, quasi an der Schale festzuhalten und das Erblühen der Blume zu verhindern, bedeutet, die Entwicklung zu höherem Leben zu hemmen.

Der spirituelle Weg des Yoga bedeutet loszulassen, die falsche Identifikation mit dem Körper und dem Ego-Ich aufzugeben. Das Ego ist der Zweifler und Leugner. Um seiner Erhaltung Willen leugnet es die höhere Existenz. Es verleugnet die Realität des höheren Selbst. Vom Standpunkt des praktizierenden und erfahrenden Yogis aus, versperrt es den Zugang zur unbegrenzten Freiheit. Wenn Meister Eckhart davon sprach das wir „zunichte" werden müssen, damit Gott in uns geboren werden kann, dann meinte er dieses Zunichte-Werden des Ego. Doch so leicht gibt das Ego nicht auf. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Das ist es, wovon der Pfad des Yoga letztlich handelt. Entweder unsere Liebe und Sehnsucht sind so stark, dass wir unsere Fesseln leichten Herzens hergeben. Oder wir müssen kämpfen.

Der Weg der transformierenden Erfahrungen – der Erfahrungen die uns vollkommen verwandeln – ist daher mitunter kein leichter. In die Tiefen des eigenen Wesens abzutauchen um es zu erforschen, sich der Vernichtung der Ich-Identität zu unterziehen, auf vieles – seien es auch Illusionen – zu verzichten, was das Leben angeblich lebenswert macht. In dieser Weise auch und gerade im alltäglichen Leben gegen den Strom der „Normalität" zu schwimmen, erfordert enorme Kraft und großen Mut. Und doch ist es nicht so, dass die Erfahrungen des täglichen Lebens gering zu schätzen wären. Unser Weg führt nicht durch irgendein „Parallel-Universum", sondern mitten durch diese Welt der Erfahrungen und des Handelns. Der Yoga-Weg der transformierenden Erfahrung besteht also nicht nur aus den Erfahrungen in unserem Inneren. Er offenbart sich uns in vielfältiger Form auch da draußen. Nämlich als all das, was wir „unser Leben" nennen: Unsere Familie, unsere Freunde, unser Beruf, unsere alltäglichen Einkäufe, unsere geplatzten Geschäftstermine, unsere noch zu zahlenden Rechnungen, unsere Freuden und Sorgen, unsere Erfolge und Misserfolge, unsere Gefühle und Gedanken und vieles mehr. Auch das sind Erfahrungen die uns transformieren.

Es geht nicht darum, welche Erfahrung wir auf unserem Weg machen – sondern was wir aus der jeweiligen Erfahrung machen. Denn hinter jeder Erfahrung – sei sie mystisch, sei sie noch so alltäglich und profan – verbirgt sich ein und diesselbe Höchste Wahrheit. Und das ist unsere wahre Identität, unser wahres ICH. Dies zu erkennen und unmittelbar und beständig zu ERFAHREN ist das Ziel des Yoga.

 

 

 

Das Bild oben zeigt MARC CHAGALLS Werk „Das Leben" (1964). Es bildet einen der Höhepunkte in Marc Chagalls Auseinandersetzung mit seinem jüdischen Gottesglauben und in seiner künstlerischen Darstellung von Transzendenz. Das Miteinander und Ineinander, die Integration von religiösen, transzendenten Bildzeichen (vielfarbig gezackte Sonne, Halbmond als Reduktion des Gottesnamens JHWH auf den Buchstaben Jod), erinnerter kollektiver Geschichte (Judenverfolgungen, Mose am Sinai, Prophet Jeremia) und individuell gelebtem und erlebtem Leben (Malen, Liebe, Musik, Sabbat, Zirkus, Paris ...) machen es zu einem mystischen Gemälde, das Ganzheit und Universalität des Lebens darstellt.